Orthorexie: Wenn gesundes Essen zum Zwang wird

In Medizin und Psychologie gibt es eine Fülle lateinischer und griechischer Fachbegriffe. Keine Angst – ich möchte mit Ihnen keinen Exkurs in die Terminologie unternehmen. An dieser Stelle geht es mir um die Wörter “ortho” und “plágios”. “Ortho” ist die griechische Vorsilbe für “gerade”, “richtig” oder auch “aufrecht”. “Plàgio” steht hingegen für das Gegenteil im Sinne von “schief”, “falsch” und “schräg”. Man kennt es zum Beispiel als Plagiat, eine Fälschung.

Man könnte also annehmen, dass in “ortho” medizinisch nichts Verwerfliches steckt. Eine Ausnahme ist die Orthorexia nervosa, der Zwang, sich gesund zu ernähren.

Gutes Vorhaben wird zum Zwang

Listerien in Milch, Schweine und Rinder, die unter katastrophalen Bedingungen aufgezogen werden – der Wunsch nach “sauberen Lebensmitteln” ist nachvollziehbar. Immer mehr Menschen entscheiden sich für eine gesunde Ernährung. Eine gute Entscheidung für die Gesundheit.

In einigen Fällen wird das Vorhaben allerdings zu einem Zwang. Derjenige, der sich nach bestem Wissen und Gewissen gegen ungesunde Nahrungsmittel entschieden hat, verliert plötzlich die Entscheidungsfreiheit. Die Präferenzen in Sachen gesunder Ernährung übernehmen nach und nach die Kontrolle über das Leben und schränken den Alltag ein. Betroffene fürchten sich beispielsweise vor Einladungen, um nicht ihre bevorzugten Speisen vorgesetzt zu bekommen.

Wenn ein gesundes Essverhalten über das Ziel hinausschießt, entwickeln sich aus dem guten Ansatz psychische Probleme. Mediziner nennen das Gesamtbild Orthorexia nervosa. Die wissenschaftlichen Untersuchungen hierzu stecken noch in den Kinderschuhen.

Klar ist schon jetzt: Ein orthorektisches Essverhalten kann, muss aber nicht Teil einer echten Essstörung sein.

Rückzug vom Alltag

Michael, Mitte 30, ist ein erfolgreicher PR-Manager aus Düsseldorf. Er leidet seit knapp zwei Jahren an der Problematik. Als Kind war er übergewichtig, machte als Teenager verschiedene Diäten, verlor ein paar Pfunde, die am Ende wieder hinzukamen. Nach dem Studium änderte er schließlich seine Ernährungsgewohnheiten und fing mit einem Trainingsprogramm an. Irgendwann drehte sich seine Ernährung um ganze zehn Produkte: Spinat, Huhn, Eiweiß, rote Paprika, Kürbis, Lachs, Spargel, Beeren, Mandelmilch (ohne Zucker) und fettarme Margarine.

Der Erfolg war spür- und sichtbar: Michael verlor fast die Hälfte seiner anfangs 120 Kilo und entwickelte Muskeln an den richtigen Stellen. All das machte ihn stolz, er postete Bilder in sozialen Medien und erntete viel Lob und Anerkennung.

Gleichzeitig fühlte er die Belastung, war müde und ausgelaugt, denn die Erfolge waren das Ergebnis harter Anstrengung. “Hinzu kam eine gewisse Einsamkeit”, beschreibt er rückblickend seine Situation. Er hatte Angst, von seinem Trainings- und Ernährungsplan abzuweichen, verzichtete auf Einladungen und Partys und zog sich mehr und mehr zurück.

Anzeichen und Muster

Michaels Symptomatik ist typisch für eine Orthorexia nervosa. Es handelt sich dabei nicht um eine Essstörung. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine Essstörung. Der US-amerikanische Arzt und Heilpraktiker Dr. Steven Bratman prägte den Begriff basierend auf Symptomen, also bestimmten Anzeichen oder Mustern, die er bei seinen Patienten erkannt hatte. Diese baten ihn um Ernährungstipps. Dabei ging es stets darum, auf welche Lebensmittel man in diesem oder jenem Fall besser verzichten sollte.

Bratman erkannte, dass viele seiner Patienten am Ende viel zu streng mit sich selbst umgingen. Er bezeichnete dieses Phänomen als Orthorexia nervosa, angelehnt an den griechischen Begriff “ortho” für “richtig” und “orexia” für “Ernährung”.

Was Bratman nicht wissen konnte: 20 Jahre später ist “gesunde Ernährung” zu einem regelrechten Hype geworden, angefeuert durch Promi-Fotos, Diät-Gurus und Schönheitsideale, die mehr Verzicht als Genuss propagieren.

Vom Extremismus zur Mäßigung

Das Problem einer Orthorexia nervosa ist, dass ein grundsätzlich vernünftiges Vorhaben irgendwann die Lebensqualität beeinträchtigt. Betroffene können nicht mehr frei und spontan über ihre (gesunde) Ernährung entscheiden. Die Ernährung wird zum Zwang, dem sie sich unterordnen müssen. Von den seelischen Folgen einmal abgesehen, kommen auch körperliche Probleme hinzu. Denn eine Begrenzung der Lebensmittelauswahl führt unweigerlich zu einem Mangel an Ausgewogenheit.

Tatsächlich ist die Orthorexie noch nicht im sogenannten ICD 10, der aktuellen “Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme” aufgeführt. Das bedeutet jedoch nicht, dass eine Orthorexie nicht behandelbar ist. Grundlegendes Ziel einer Therapie muss sein, in Sachen Ernährung vom Extremismus zur Mäßigung überzugehen.

Falsche Denkmuster entwirren

Dabei geht es um ein verändertes Denken. Die (falschen) Überzeugungen Betroffener müssen nach und nach entwirrt werden. Es ist ein schrittweiser Prozess, denn bei vielen hat sich der Ernährungsplan – oder besser, die Liste des Verzichts – tief festgesetzt. Ein Ausbrechen birgt auch immer das Risiko, (neue) Ängste und Phobien zu entwickeln, beispielsweise vor Krankheiten.

Erfolg braucht Zeit

Michael ist seit etwas über einem Jahr in Behandlung. Erfolgreich ist bei ihm die Hypnosetherapie, die nicht nur falsche Denkansätze auflöst, sondern auch die eigenen Kräfte zu Veränderung weckt. Inzwischen sieht er vieles mit anderen Augen. An den Wochenenden trifft er sich mit Freunden, spricht mit ihnen über Ernährung und ergänzt seinen Ernährungsplan regelmäßig um neue Produkte.

Wenn Sie glauben, an Orthorexie oder einer Essstörung zu leiden, ist es wichtig, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dr. Bratford, der den Begriff Orthorexie einst prägte, hat einen Fragenkatalog zusammengestellt. Dieser gibt erste Hinweise darauf, ob eine mögliche Orthorexie vorliegt:

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